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Jubiläumsartikel: Die Milch macht´s – aber was? (2003)

Mittelohrentzündungen und Verschleimung, sagen die Milchgegner – gesunde Knochen und Zähne halten die Milchbefürworter dagegen. Keine Frage, die gesundheitliche Bewertung der Milch gehört zu den beliebtesten und ältesten Reizthemen der Ernährungsszene. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) in Bonn empfiehlt: „Trinken Sie täglich mindestens einen Viertel Liter fettarme Milch und essen Sie zwei Scheiben Käse. So stellen Sie sicher, dass Ihr Körper genügend Calcium bekommt, das er für Wachstum und Knochenbildung benötigt.“ Milch und Milchprodukte sind die bedeutendsten Calciumquellen in unserer Nahrung. Der Mineralstoff gilt als wichtigster Schutz vor Erkrankungen des Knochensystems, wie z.B. der Osteoporose.

Aus dem Lager der Milchgegner – beispielsweise in Büchern wie „Fit for life“ – hören wir dagegen, dass neben dem gehäuften Auftreten von Mittelohrentzündungen bei Milch trinkenden Kindern, die „mit dem Genuss von Milchprodukten verbundene Schleimbildung“ ein ernstzunehmendes Problem darstelle. Das klingt nicht gut. Einmal skeptisch geworden, müssen wir uns dann auch noch fragen lassen: „Warum in aller Welt sollen Menschen die Milch der Kühe trinken? … Die Kuhmilch wurde für einen einzigen Zweck und nur für diesen geschaffen, nämlich für die Fütterung der arteigenen Nachkommen.“ Das klingt plausibel – doch die daraus gezogenen Schlüsse sind falsch.

Nur Muttermilch und Obst?

Natürlich ist die Kuhmilch eigens für Kälber „entwickelt“ worden und nicht für den Menschen. Doch Möhren, Nüsse oder Kohlrabi wachsen ebenfalls nicht extra für uns: Auch diese Nahrung „rauben“ wir anderen Lebewesen, sie sind nicht speziell auf unsere Nahrungsbedürfnisse abgestimmt. Wollten wir nur das essen, was die Natur für uns vorgesehen hat, müssten wir von der Muttermilch auf (Süd-)Früchte umsteigen – und das wär´s gewesen.

Muttermilch ist einleuchtend, aber warum Früchte? Weil Bananenstauden, Kiwi-Sträucher und Apfelbäume sich im Laufe ihrer Evolution eine besondere Strategie zur Verbreitung ihrer Samen „ausgedacht“ haben: Sie umgaben die Samenkerne mit einem süßen, duftenden Fruchtfleisch, denn das lockt Säugetiere wie Affen, Pferde, Bären und natürlich auch Menschen an. Die verzehren die nahrhaften Früchte mit großem Vergnügen und scheiden die unverdaulichen Samen andernorts wieder aus – umgeben von einem ordentlichen Dunghaufen als „Startkapital“. So konnten die Obstgewächse sicherstellen, dass ihre Samen eine möglichst gute und weite Verbreitung erfahren und nicht einfach nur vom Stamm fallen und vermodern. Insofern sind viele Früchte von der Natur „extra“ für Säugetiere wie den Menschen gemacht.

Am Äquator mag es noch gelingen, nur von Früchten zu leben, doch im kalten europäischen Winter war eine reine Früchtekost früher schlicht unmöglich und heute wäre sie wahrlich kein Vergnügen – einmal ganz davon abgesehen, dass sie für Kinder gefährlich einseitig ist und auch bei Erwachsenen zu Mangelerscheinungen führen kann.

Damit ist aber noch immer nicht der endlose Streit um die Milch entschieden. Dabei ist die Frage längst geklärt: Marvin Harris, ein amerikanischer Anthropologe und Querdenker hat schon vor Jahren eine plausible Antwort gefunden. Sie beginnt mit einem entschiedenen „Es kommt darauf an …“: Denn ob Milch „gut“ oder „schlecht“ ist, hängt schlicht damit zusammen, ob sie vertragen wird.

Milch – ja oder nein? Ja und nein!

Wenn man die Allergien einmal ausklammert, die es nötig machen, auf Milch zu verzichten, dann ist es der in der Milch enthaltende Milchzucker (Laktose), der Probleme verursachen kann. Die Mediziner sprechen von einer Milchzucker-Unverträglichkeit oder Laktose-Intoleranz.

Die Fähigkeit des menschlichen Organismus Milchzucker zu verdauen, ist erblich bedingt und zeigt regional große Schwankungen: Sie variiert mit unserer Hautfarbe und mit dem Breitengrad unseres Wohnortes. Wie kam Harris darauf? Ihm fiel auf, dass die hellhäutigen Skandinavier Milch meist lieben und gut vertragen. Dagegen stellt sie für Chinesen ein Ekel erregendes Drüsensekret dar. Und fast alle dunkelhäutigen Afrikaner vertragen gar keine Milch. Ihnen fehlt das Enzym (Laktase), das für die Verdauung des Milchzuckers nötig ist. Sie sind Laktose-intolerant und bekommen Bauchschmerzen, Blähungen und Durchfall, falls sie doch Milch trinken.

Die Milchverdauung findet im Darm statt. Normalerweise bilden Säugetiere nach der Entwöhnung von der Muttermilch in ihrem Darm immer weniger von dem Laktose-spaltenden Enzym, sodass sie Milch nicht mehr gut vertragen, sobald sie ausgewachsen sind. Das änderte sich beim Menschen vor etwa 10.000 Jahren, als er – vermutlich von Afrika aus – in die nördlichen Regionen der Erde vordrang: Dort bedrohten ihn Knochenleiden wie Osteomalazie (Knochenerweichung), und seine Kinder bekamen Rachitis. Was war der Grund?

Calcium plus Vitamin D – oder Laktose

Für ein gesundes Skelett braucht der Körper nicht nur Calcium, sondern auch Vitamin D. Das Vitamin sorgt dafür, dass das Calcium aus der Nahrung vom Körper verwertet werden kann. Während die Menschen in warmen Gegenden wie der afrikanischen Savanne mit Hilfe der Sonnenstrahlen genügend Vitamin D in ihrer Haut bilden konnten und die Küstenbewohner durch den Verzehr von Fisch viel Vitamin D aufnahmen, gab es im Binnenland der nordischen Länder Probleme: Infolge der geringen Sonnenscheindauer und der notwendigen dickeren Kleidung konnten die Menschen nur wenig Vitamin D bilden. Es gibt allerdings noch einen Stoff, der für die Verwertung des Calciums sorgen kann – Milchzucker. Doch Laktose hatten bis dahin nur Säuglinge mit der Muttermilch erhalten.

Die Umsiedler sollten jedoch Glück haben, denn es kam zu zwei genetischen Besonderheiten: Zum einen setzte sich im Norden eine immer helle Haut durch, so dass die wenigen Sonnenstrahlen besser zur Vitamin-D-Bildung genutzt werden konnten. Andererseits setzten sich allmählich jene Familien durch, bei denen die Laktasebildung der Kinder nach dem Abstillen nicht nachließ, sodass sie auch als Erwachsene noch Milch vertragen konnten. Da es inzwischen auch gelungen war, gezähmte Tiere zu melken, konnte man deren Milch immer besser zur eigenen Ernährung nutzen. Die Milch lieferte nicht nur große Mengen Calcium, sondern auch reichlich verdauungsfördernde Laktose.

Ausnahmen bestätigen die Regel

In anderen Regionen der Erde entschied die Verfügbarkeit der Milch über die Laktoseverträglichkeit der erwachsenen Bevölkerung. Denn überall dort, wo Weidewirtschaft gut möglich war, finden sich auch Laktose-tolerante Erwachsene, wie das Beispiel ostafrikanischer Nomadenvölker zeigt: Sie haben zwar eine dunkle Haut und wären nicht auf Laktose angewiesen. Da sie sich jedoch traditionell von Blut und Milch ernähren, ist die Laktoseverträglichkeit von Vorteil und bleibt erhalten.

Auch in Indien, mit seiner landwirtschaftlichen Abhängigkeit vom Rind als Zugtier, vertragen trotz der relativ hohen UV-Intensität relativ viele Menschen Milch. Die Gene für die Bildung des Milchzucker-spaltenden Enzyms sind in der erwachsenen Bevölkerung heute umso verbreiteter, je mehr Milch in der Vergangenheit getrunken wurde. Offenbar ist es so, dass erwachsene Menschen dort Milchzucker vertragen, wo die ökologischen Gegebenheiten den Milchkonsum erforderten oder ermöglichten.

Joghurtfans und Käsehasser

Wer sich einmal ohne Scheuklappen im Bekanntenkreis umsieht, wird feststellen, dass es da sowohl Quark- und Joghurtfans gibt als auch Milch- und Käsehasser – und dazu noch alle möglichen Zwischenstufen. Und genau das ist die Realität: Manche Menschen mögen Milch, andere nicht, manche vertragen sie gut, anderen geht es ohne besser. Deswegen lässt sich die umstrittene Milchfrage leicht beantworten: Wer Milch (und Milchprodukte) verträgt, für den sind sie gehaltvolle, nährstoffreiche Lebensmittel. Sie liefern viel leicht verdauliches Eiweiß, daneben etwas Vitamin D und K, B6 und B2 sowie Mineralstoffe und Spurenelemente, allen voran Calcium für gesunde Knochen und Zähne.

Wer sie nicht verträgt, dem nützen auch die ganzen schönen Inhaltsstoffe nicht viel. Denn Menschen mit einer Laktose-Intoleranz können das Calcium aus der Milch kaum verwerten. So erklären sich auch die Erfahrungsberichte einiger Ärzte, wonach es Laktose-intoleranten Osteoporose-Patienten besser ging, wenn sie die Milch wegliessen.

Von einer Milchzucker-Unverträglichkeit sind in Deutschland rund 10 Prozent der Bevölkerung betroffen, das sind immerhin gut 8 Millionen Menschen. In südlichen Regionen der Erde sind bis zu 99 Prozent betroffen. Diese Menschen sollten die Finger von der Milch lassen. Da bei der Herstellung von Milchprodukten ein Teil des Milchzuckers abgebaut wird, vertragen manche Joghurt oder Käse. Hier lohnt es sich auszuprobieren, was „geht“.

(erschienen 2003 in der Saarbrücker Zeitung)

Diplom Oecotrophologin, Freie Wissenschaftsjournalistin, neugierig, kritisch, undogmatisch

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