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Jubiläumsartikel: Der etwas andere Lebensmittel-Skandal: Angeblich „gesunde“ Ernährung macht krank (2004)

Nein, es geht nicht um Nitrofen, Hormone oder BSE. Es geht vielmehr um die ganz „normalen“ Empfehlungen der Ernährungswissenschaft zur „gesunden“ Ernährung: Seit 40 Jahren hören wir, z.B. von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, gesund sei eine möglichst fett-, cholesterin- und salzarme Kost, die dafür reichlich Kohlenhydrate und Ballaststoffe liefern soll. Kaum ein Ratgeber, der nicht vor fettigen Fingern beim Essen warnt und stattdessen Vollkornknäcke und Nudeln empfiehlt. So lernten wir, uns vor Butter und Öl, Sahne und Speck zu fürchten. Und stopfen derweil Brot, Müsli, Kekse und Kartoffeln in uns hinein – von irgendetwas muss der Mensch ja satt werden. Diese Lebensmittel liefern so genannte „komplexe“ Kohlenhydrate, die nach der gängigen Lehre und im Gegensatz zu Zucker vorteilhaft sind und das Fett vom Teller verdrängen sollen.

Doch so wie es aussieht, wurden die Menschen jahrzehntelang falsch beraten. Erste Hinweise hatten zwei große Studien der renommierten Harvard Medical School in Boston erbracht, die Nurses Health und die Health Professionals´ Studie. Sie ergaben, dass ein „gesundes“ Essverhalten im Sinne von „fettarm-kohlenhydratreich“ auch nach vielen Jahren kaum Vorteile bringt: Die Herzinfarktrate der Männer war ein wenig, die der Frauen nicht erniedrigt, und weder die Krebssterblichkeit noch die Lebenserwartung hatten sich verbessert. Die Bostoner Forscher rieten darauf hin keineswegs zu Gleichgültigkeit oder Völlerei, sondern forderten die Fachwelt auf, ihre Ernährungsregeln kritisch zu überprüfen.

Fettarm und kohlenhydratreich zum Infarkt

Das Dogma vom Fett als Gesundheitsrisiko war unter kritischen Wissenschaftlern von Anfang an umstritten – denoch hielt es sich hartnäckig. In einem spannenden Artikel im Wissenschaftsmagazin Science legte Gary Taubes im März 2001 detailliert dar, dass die Schädlichkeit des Fettes nie eindeutig belegt werden konnte. Er resümiert: „Der ernährungswissenschaftliche Mainstream hat das Fett dämonisiert. Allerdings gelang es der Forschung selbst in 50 Jahren und mit hunderten von Millionen Dollar nicht, zu beweisen, dass eine fettarme Kost dabei hilft, länger zu leben.“

Ein Leben lang sparsam mit Butter, Ei, Öl und Fleisch – und nun soll alles umsonst gewesen sein? Für Gesundheitsbewusste mag das schockierend genug sein, es kommt jedoch noch schlimmer: Es häufen sich die Hinweise darauf, dass die althergebrachten Essvorschriften jene Zivilisationsleiden, die sie verhindern sollten, sogar fördern könnten. Die Ergebnisse vieler kleiner Stoffwechselstudien der letzten Jahre lassen sich so zusammenfassen: Je fettärmer und kohlenhydratreicher die Kost, desto schlechter fallen die Werte für Risikofaktoren wie Blutcholesterin, Blutfette, Blutdruck, Blutzucker und Insulin aus. Das gilt in erster Linie für Übergewichtige, Bewegungsmuffel und Menschen mit gestörtem Zuckerstoffwechsel. Genau ihnen wird von offizieller Seite aber besonders vehement zum Fettsparen geraten. Diese Verdammung der Fette könnte sich als einer der größten Fehler in der Geschichte der Ernährungswissenschaft erweisen.

Auf der anderen Seite entpuppen sich ausgerechnet die als Gesundheitsgaranten gepriesenen Kohlenhydrate immer mehr als Bösewichter – egal, ob in Form von „komplexen“ Kohlenhydraten wie die Stärke in Brot und Nudeln oder als „einfacher“ Zucker in Süßwaren und Getränken. In großen Beobachtungsstudien mit mehr als 130.000 Teilnehmern zeigte sich: Je mehr Kohlenhydrate verzehrt werden und je stärker diese den Blutzuckerspiegel erhöhen, desto häufiger kommt es zu Übergewicht, Herzkrankheiten und Diabetes. Damit einhergehend steigt auch das Risiko für Schlaganfall, bestimmte Krebsformen, Blindheit, Nierenschäden und Amputationen.

Seltsam nur, dass die Öffentlichkeit von solchen Studienergebnissen kaum etwas erfährt. Zumal praktische Ärzte wie etwa der Österreicher Wolfgang Lutz oder der durch seine „Diät-Revolution“ in den 70er Jahren bekannt gewordene US-Arzt Robert Atkins seit Jahrzehnten vor der „Kohlenhydrat-Falle“ warnen und eine fett- und eiweißreiche Kost empfehlen. Statt die Beobachtungen dieser Mediziner zu überprüfen, tat man sie all die Jahre hochnäsig als Außenseiter ab und brandmarkte ihre kohlenhydratarmen Kostempfehlungen als gefährlich.

Die vermeintlichen Außenseiter erleben derzeit immer mehr Zulauf, vor allem in den USA und in Großbritannien. Kein Wunder, denn dort explodieren die Zahlen der Dicken und Zuckerkranken förmlich – trotz eines rückläufigen Fettverzehrs. In den USA ist bereits jedes 4. Kind übergewichtig und mindestens jeder 3. Erwachsene über 50 Jahren leidet an Störungen im Fett- und Zuckerstoffwechsel. Weltweit wird bis zum Jahr 2025 mit einer Verdopplung der Diabeteskranken auf über 300 Millionen gerechnet. Alarmierend ist auch, dass schon Kinder am so genannten „Altersdiabetes“ erkranken. Mit etwas weniger Ignoranz gegenüber Andersdenkenden wäre diese Entwicklung vielleicht zu verhindern gewesen.

Ausprobieren!

Was ist zu tun? Wer schlank ist, sich regelmäßig bewegt und keine Probleme mit seiner Ernährung (Blähungen, Völlegefühl) und seiner Gesundheit hat (z. B. hohe Blutfettwerte), möge mit Genuss und Freude so weiteressen wie bisher!

Alle anderen sollten einmal kritisch in sich hineinhorchen, insbesondere wenn viel Brot, Nudeln, Kartoffeln aber auch Kuchen, Süßigkeiten und Softdrinks (Limo, Cola, Eistee, etc.) verspeist werden. Wer bei dieser Kohlenhydrat-betonten Kost dick und krank oder aufgebläht und müde ist, kann einmal eine Fett- und Eiweiß-betonte Kost mit reichlich Gemüse und Obst ausprobieren. Dies gelingt, indem ein Teil der Kohlenhydratträger durch Gemüse, Obst, mageres Fleisch und Geflügel, Fisch (auch die fetten Sorten), Milch und Milchprodukte oder Nüsse ersetzt wird. Bei den Fetten bietet sich Butter als Streichfett an – davon benötigt man jedoch automatisch weniger, wenn weniger Brot gegessen wird. Dagegen darf bei Olivenöl, Rapsöl, Gänse- und Schweineschmalz ruhig etwas kräftiger zugelangt werden. Aufgrund ihrer Fettsäurezusammensetzung gelten diese Fette als günstig für die Cholesterin- und Blutfettwerte. Gut möglich, dass bei einer solchen Kost nicht nur das Gewicht sinkt, sondern auch die Blutfett-, Blutzucker- und Blutdruckwerte besser werden.

Die Ernährungswissenschaft ist derweil aufgerufen, zu überprüfen, ob nicht eine Brot- und Nudel-arme, Fleisch-, Ei- und Fisch-betonte Kost mit ausreichend Gemüse und Obst viel gesünder ist, als das, was sie derzeit empfiehlt. Es ist höchste Zeit, zu handeln, denn Dortmunder Ernährungsforscher berichteten kürzlich im British Journal of Nutrition, dass deutsche Kinder immer weniger fetthaltige Lebensmittel verspeisen und dafür – während ihre Muskeln vor den Bildschirmen Dauerpause haben – bei kohlenhydratreichen Getreideflocken und Brot kräftiger zulangen. Wer diese Entwicklung weiter unkritisch vorantreibt, muss sich womöglich bald vorhalten lassen, Übergewicht und Diabetes in der jungen Generation nach Kräften gefördert zu haben.

Diplom Oecotrophologin, Freie Wissenschaftsjournalistin, neugierig, kritisch, undogmatisch

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