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Jubiläumsartikel: Gesunde Ernährung: im Fettnäpfchen (2002)

Evidenz-basierte Methoden entlarven Empfehlungen als Makulatur

Sigrid S. ist 40 Jahre alt und hat ein paar Pfund zuviel auf den Rippen. Ihr Cholesterinspiegel ist leicht erhöht. Deswegen achtet die gesundheitsbewusste Mutter besonders auf das Fett im Essen: Sie kauft Milch nur mit 1,5 Prozent Fett und meidet fette Wurst. Das Salatöl hat sie gegen ein Light-Dressing ausgetauscht, und Butter ist längst tabu. Bei Kartoffeln, Nudeln und Brot langt sie dafür mit gutem Gewissen kräftig zu. Und wenn sie mal nascht, dann kohlenhydrathaltige Fruchtgummis statt fetter Schokolade. Damit folgt sie exakt den Empfehlungen vieler Ernährungsberater – und macht womöglich alles nur schlimmer.

Seit vierzig Jahren warnen Mediziner und Ernährungsexperten insbesondere vor tierischen Fetten und gesättigten Fettsäuren: Zuviel Fett mache fett und krank – so lautet die simple Botschaft fürs Volk. Wer abnehmen oder sich vor Herzinfarkt und Schlaganfall schützen will, müsse das „böse“ Fett durch „gute“ Kohlenhydrate ersetzen. Wird dies in Stoffwechselstudien überprüft, sinkt das „böse“ LDL-Cholesterin und mit ihm der Gesamtcholesterinspiegel.

Aber: Zahlreiche andere Kennzahlen des Fettstoffwechsels verschlechtern sich. Das „gute“ HDL sinkt, die Blutfette (Triglyceride) steigen. Die LDL-Partikel werden kleiner, was sie gefährlicher für die Gefäßwand macht. Unterm Strich steigt das Herzinfarktrisiko – zumindest theoretisch. Besonders gefährdet sind Übergewichtige und Menschen mit erhöhten Blutzucker- und Insulinwerten, die auf dem besten Weg sind, an Diabetes zu erkranken. Denn auch Kennzahlen des Zuckerstoffwechsels – Glucosetoleranz und Insulinempfindlichkeit – verschlechtern sich. Je fettärmer und stärkereicher die Kost, desto schlechter die Blutwerte.

Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt bis heute, maximal 30 Prozent der Kalorien in Form von Fettigem zu verspeisen und mehr als 55 Prozent als Kohlenhydrate. Wer auf die Idee kam, wissenschaftliche Belege dafür einzufordern, erntete bestenfalls Unverständnis, wie Nicolai Worm aus Berg am Starnberger See. In Büchern und Vorträgen setzt sich der Ernährungswissenschaftler seit Jahren dafür ein, zur Qualitätssicherung bei Ernährungsempfehlungen die Kriterien der Evidenz-basierten Medizin anzuwenden.

Im Bereich der Pharmakotherapie heute selbstverständlich, könnte diese Methode auch das essende Volk vor Trugschlüssen und Schäden schützen, zumindest unnötige Einschränkungen der Lebensqualität abwenden. Dazu ist es nötig, sich einen umfassenden Überblick über alle Studien zu einer Fragestellung zu verschaffen, sie nach ihrer Aussagekraft zu gewichten und nach international anerkannten, einheitlichen Kriterien auszuwerten. „Eine Evidenz-basierte Vorgehensweise würde sicherstellen,“ so Worm, „dass Ernährungsempfehlungen dem aktuellen Kenntnisstand entsprechen – und nicht der Meinung einzelner Ernährungs-Päpste“. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass die Evidenz-basierte Medizin gerade die Meinung von Experten auf der niedrigsten Stufe der Beweiskraft einordnet.

Die DGE stellte sich nun der Kritik. Anlässlich ihres Kongresses, der am 14. und 15. März in Jena stattfand, lud sie Worm aufs Podium. Der konzentrierte sich auf die Aussage Fett mache fett und präsentierte die Daten aller vorliegenden Langzeitstudien. Sie hatten mehrheitlich keinen Zusammenhang zwischen Fettkonsum und Übergewicht gefunden. Studien, in denen eine fettarme Kost zum Abspecken überprüft worden war, hatten nur magere Erfolge erbracht: Die zusammenfassende Analyse von 16 solcher Arbeiten zeigte, dass mit Hilfe des Fettsparens gerade mal ein Minus von 2,5 Kilo erreichbar ist – sofern die Patienten in ein strenges Studienprotokoll eingebunden waren.

Auch das „amerikanische Paradoxon“ spricht gegen die simple Hypothese vom Fett als Dickmacher: In den USA sank der Fettanteil von 40 auf 34 Prozent der Kalorien. Gleichzeitig verdoppelte sich die Zahl der Übergewichtigen, die Herzinfarkte wurden nicht seltener, und Diabetes droht zur Epidemie zu werden. Vor wenigen Tagen wurden in Großbritannien die ersten Kinder mit Erwachsenendiabetes diagnostiziert. „Was ist das für eine Logik, immer noch weniger Fett zu empfehlen?“ wetterte Worm.

Sein Kontrahent, der Göttinger Ernährungspsychologe und frühere DGE-Präsident Professor Volker Pudel, hatte dem wenig entgegen zu setzen. Er verwies auf zwei Querschnittsstudien, die ergeben hatten, dass Übergewichtige mehr Fett essen als Schlanke. Solche Studien bieten jedoch nur wenig Evidenz, weil Ursache und Wirkung nicht unterscheidbar sind. Pudel, der komplexe ernährungsmedizinische Sachverhalte gerne auf einfache Formeln bringt, will dabei bleiben: Fett mache fett, Kohlenhydrate fit! Begründung: In der Ernährungsberatung sind nun mal Kompromisse nötig.

Aufgrund der neueren Fachliteratur sind erhebliche Zweifel an der Hypothese vom „bösen“ Fett und den „guten“ Kohlenhydraten angebracht: So fand die Nurses Health Studyder Harvard Medical School in Boston bei rund 80.000 Krankenschwestern keinerlei Zusammenhang zwischen Herzinfarkt und Fettverzehr. Dagegen verdoppelte sich die Infarktrate, wenn besonders viel Kohlenhydrate mit hoher Blutzuckerwirksamkeit gegessen wurden. Ernüchternd fiel auch die systematische Übersichtsarbeit der Arbeitsgruppe um Lee Hooper aus Manchester aus. Anhand Evidenz-basierter Kriterien waren die Daten von elf Interventionsstudien gepoolt worden, die eine fettarme oder fettmodifizierte Kost untersucht hatten. Das Ergebnis war ebenso mager wie die Diäten: Weder die Zahl der Herz- und Hirninfarkte, noch die Sterblichkeit sanken signifikant.

„Der ernährungswissenschaftliche Mainstream hat das Fett dämonisiert. Allerdings gelang es der Forschung selbst in 50 Jahren und mit Hunderten von Millionen Dollar nicht, zu beweisen, dass eine fettarme Kost dabei hilft, länger zu leben.“ Zu diesem Fazit war Gary Taubes im März 2001 in Science gekommen, nachdem er ein Jahr recherchiert und über 150 Interviews geführt hatte. Er beschreibt, wie die Fett-Hypothese in den 50er Jahren in den USA entstand und schließlich zum Dogma avancierte.

Die zugrunde liegenden Daten waren von Anfang an zweideutig. Ancel Keys, Biochemiker aus Minnesota und Mitinitiator der amerikanischen Fettphobie, musste schon 1952 zugeben, dass „die direkte Evidenz für einen Effekt der Ernährung auf die menschliche Arteriosklerose sehr klein ist.“ Keys sollte Recht behalten: Eine 1988 vom US-Gesundheitsministerium eingerichtete Kommission, die einen wissenschaftlichen Bericht über die Schädlichkeit des Nahrungsfettes schreiben sollte, musste ihre Arbeit nach elf Jahren ohne Ergebnis einstellen.

Die Evidenz ist also zu schwach, um Fettspar-Empfehlungen für die Allgemeinheit daraus abzuleiten. Selbst für die Verpflegung von Herzpatienten ist die Datenlage relativ mager. „Es gibt viel Konsens und wenig Evidenz“, so Clemens von Schacky, Professor für Innere Medizin, in der Münchner Medizinischen Wochenschrift. „Es fehlt zwar nicht an guten Ratschlägen, doch entpuppen sich viele, sofern sie in großen Studien überprüft werden, als wirkungslos.“

Was aber könnte helfen? Vieles spricht dafür, den Menschen ihre übliche Fettmenge von knapp 40 Prozent zu lassen und der Fettqualität mehr Beachtung zu schenken. Längst haben sich fettreiche tierische Lebensmittel wie Fische aus kalten Gewässern (Hering, Lachs, Makrele) als herz- und gefäßschützend erwiesen. Dies wird auf ihren Gehalt an hoch ungesättigen Omega-3-Fettsäuren zurückgeführt. Vorstufen dieser Fettsäuren finden sich in Rapsöl, grünem Blattgemüse und Nüssen.

Penny Kris-Etherton von der Pennsylvania State University konnte zeigen, dass eine Kost mit 34 Prozent Fett ein günstigeres Lipidprofil ergibt als die Variante mit 25 Prozent Fett – sofern die Fettqualität stimmt. In diese Richtung weisen immer mehr Stoffwechselstudien: Wird das Fett nicht reduziert, sondern überwiegend in Form von ungesättigten, insbesondere einfach ungesättigten Fettsäuren aufgenommen, verbessern sich Fett- und Zuckerwerte. Einfach ungesättigte Fettsäuren, das heißt Oliven-, Raps- oder Erdnussöl, aber auch Schweine- und Gänseschmalz.

Für Herzinfarktpatienten ließ der britische Diätverband inzwischen Evidenz-basierte Ernährungsleitlinien ausarbeiten: Danach spricht die beste verfügbare Evidenz dafür, nach überstandenem Infarkt eine „mediterrane Diät“ zu empfehlen. Das heißt konkret: Mehr fetten Fisch oder Fischöl-Präparate oder Rapsöl, gesättigte Fettsäuren nicht durch Kohlenhydrate, sondern durch einfach ungesättigte Fettsäuren ersetzten, mehr Obst und Gemüse und eher Frisches als Fertigprodukte verspeisen. Einzig diese Kostform hat sich als lebensverlängernd erwiesen. Für alle anderen Ratschläge, ob kohlenhydratreich, salzarm oder angereichert mit Vitaminen, gibt es keine vergleichbare wissenschaftliche Basis.

Der Mythos vom „bösen“ Fett ist also nicht der einzige, der einer Generalüberholung bedarf. Zwei große amerikanische Ernährungsstudien, dieHealth Professionals‘ und die Nurses Health Study, hatten erst kürzlich gezeigt, dass das Einhalten der offiziellen Ernährungsempfehlungen für Männer nur geringfügige und für Frauen keine nachweisbaren Gesundheitsvorteile bringt. Die Autoren folgern daraus nicht, dass wir uns künftig maßlos voll stopfen können, sondern dass die Ernährungsempfehlungen überprüft werden müssen. Bis es so weit ist, lohnt wohl eine gesunde Skepsis. Frei nach Mark Twain, der warnte: „Vorsicht beim Lesen von Gesundheitsbüchern, du könntest an einem Druckfehler sterben.“

Diplom Oecotrophologin, Freie Wissenschaftsjournalistin, neugierig, kritisch, undogmatisch

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