Skip to content

Jubiläumsartikel: Glutamat – der Gefräßig-Macher (2009)

„Wie würzt Ihr Eure Speisen? Ich kann ohne Aromat nicht leben“, so eine verzweifelte Anfrage in einem Internetforum. Ein anderer schreibt, ein Spiegelei ohne Aromat sei für ihn lange „unvorstellbar“ gewesen. „Auf jede Speise musste das gelbe Zeugs“, aber jetzt sei er „clean“. Ein weiterer Beitrag beginnt mit „hallo Aromat-Junkies“, wonach sich der Schreiber selbst als ehemaliger „Junkie“ outet, der „das Zeug löffelweise“ in sich hineinstopfen konnte. Da er es jedoch für den Auslöser seiner Migräne hielt, stieg er auf Kräuter- und Gewürzsalze um.

Die seit 60 Jahren beliebten gelben Würzkrümel haben den Geschmack ganzer Generationen geprägt – fast ist man geneigt von Abhängigkeit zu sprechen. Wo mancher Geläuterte sich mit Grausen abwendet, glänzen bei vielen Schweizern die Augen: Aromat reist mit ins Ausland, und Auslandschweizer freuen sich über ein Döschen Aromat aus der Heimat. Was diese wie auch andere Würzen so beliebt und zugleich so umstritten macht, ist ihr hoher Anteil an Glutamat. Nach Jodsalz erscheint es als „Geschmacksverstärker (Mononatriumglutamat)“ auf der Zutatenliste gleich an zweiter Stelle. Das sagt uns zwar nicht, wie viel Glutamat in der Dose steckt, aber immerhin, dass es mengenmäßig die zweitwichtigste Zutat ist.

Glutamat ist ein zugelassener Zusatzstoff, deklariert als Geschmacksverstärker mit den E-Nummern 620 bis 625. Und doch liefert er viel Zündstoff. Nicht nur, weil er die Geschmacksempfindung dermaßen prägt, dass viele kaum davon lassen können, sondern auch weil er seit langem im Verdacht steht, Übergewicht zu fördern. Bereits beim ersten Kontakt mit Glutamat läuft einem das Wasser im Mund zusammen. Alles, was den Speichel fließen lässt, animiert den Menschen unbewusst zum Weiteressen. Glutamat fördert zudem die Insulinausschüttung und könnte so zu Heißhunger, Überessen und Übergewicht führen. Zudem sorgt es für einen Anstieg des Stresshormons Kortison, dem ebenfalls eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Übergewicht zukommt.

Damit nicht genug: Aus Tierversuchen ist bekannt, dass es durch Glutamat im Futter zu Hirnschäden kommt, in deren Folge kaum noch Wachstumshormon gebildet wird. Die Fressgier der Tiere steigt, sie werden fett und bleiben klein. Doch nicht nur Versuchstiere fressen schneller und gieriger, wenn ihr Futter Glutamat enthält. Seit Beginn der neunziger Jahre wissen wir, dass dies auch beim Menschen funktioniert: Ein Zusatz von 0,6% Glutamat – genau die Menge, die üblicherweise Würsten, Chips und Fertiggerichten zugesetzt wird – ließ Testesser mehr und hastiger essen. Damit ist eigentlich alles gesagt.

Auch für Professor Michael Hermanussen ist die Sache klar: Der Kinderarzt aus Norddeutschland hält die chronische Aufnahme hoher Glutamatmengen für einen wesentlichen Grund dafür, dass weltweit immer mehr Menschen immer gefräßiger und dicker werden. Als Ursache führt er die nervenschädigende Wirkung des „Geschmacksverstärkers“ an. Tatsächlich bewirkt Glutamat nicht nur den beliebten Geschmackseindruck auf der Zunge, es agiert auch als anregender Botenstoff zwischen den Nervenzellen im Gehirn. Und wie immer, entscheidet die Dosis, ob etwas giftig ist: Geringe Glutamatmengen wirken anregend, wirkt jedoch zu viel Glutamat auf eine Nervenzelle ein, geht sie durch Übererregung zugrunde. Da unser Appetit von Nervenzellen im Gehirn reguliert wird, die durch Glutamat Schaden nehmen können, sieht Hermanussen hier die entscheidende Verbindung.

Der „nervtötende“ Effekt des Glutamats ist in der Fachwelt unstrittig. Gestritten wird darüber, ob Glutamat bis ins Hirn gelangt. Die Befürworter ungehemmten Glutamateinsatzes sind überzeugt, dass der Großteil bereits von den Darmzellen zur Energiegewinnung genutzt und von den Leberzellen eliminiert wird. So gelange nur sehr wenig Glutamat ins Blut und vor diesem sei das Gehirn durch die Blut-Hirn-Schranke geschützt. Diese Schranke gibt es tatsächlich. Sie schützt unser Denkorgan vor Unbill aus dem Körperkreislauf. Doch inzwischen ist klar: Genau dort, wo Hunger und Sättigung reguliert werden (im Hypothalamus), sind wir nicht ganz dicht im Oberstübchen.

Von der Glutamat herstellenden und verwendenden Industrie wird gerne argumentiert, dass Glutamat in vielen Lebensmitteln von Natur aus vorkomme. In der Tat ist Glutamat keine obskure Chemikalie, sondern das Salz der Aminosäure Glutaminsäure und damit ein natürlicher Bestandteil aller Nahrungseiweiße. Solange das Eiweiß intakt ist, bleibt die Glutaminsäure fest mit den anderen Aminosäuren verknüpft. Erst beim Reifen, Extrahieren oder Fermentieren der Lebensmittel oder im Zuge ihrer Verdauung wird sie frei und kann ihre Wirkungen entfalten. Glutamat aus intakten, eiweißreichen Lebensmitteln gelangt daher nur langsam ins Blut. Reines Glutamat in Pulverform, vor allem, wenn es in Form von Suppen auf nüchternen Magen gegessen wird, kann die Blutspiegel dagegen in kurzer Zeit vervielfachen.

Tatsächlich sind Tomatenmark, gereifte Schinken, Parmesankäse und bestimmte Algen von Natur aus reich an natürlichem Glutamat. Sie enthalten es sogar teilweise in freier Form. Das dürfte die weltweite Beliebtheit von Parmesan und Tomatensoße zwanglos erklären. Doch lassen sich mit üblichem Käse- und Tomatengenuss die gleichen Glutamatmengen erreichen, wie durch den ständigen Genuss von Speisen, die mit freiem Glutamat „gewürzt“ sind? Es geht hier übrigens nicht um das so genannte China-Restaurant-Syndrom, das bei empfindlichen Menschen zu Schläfendruck, Kribbeln, Kopfschmerzen und Engegefühl in der Brust führt. Es geht um die Zerstörung unserer Appetitregulation. Mittlerweile fand man auch in China erste Hinweise darauf, dass Glutamatverwender eher übergewichtig sind als Abstinenzler.

Auf Glutamat als „Gewichtsverstärker“ deuten auch jene Studien, die es als appetitanregendes Mittel für Senioren testeten. Das Glutamat erwies sich als äußerst hilfreich: Es erhöhte den Speichelfluss und verbesserte den Appetit. Was bei abgemagerten Altenheimbewohnern zunächst positiv erscheint, ist im Essen einer Gesellschaft, die zunehmend mit Übergewicht kämpft, fehl am Platz. Zudem muss man fragen, ob ausgerechnet Glutamat die richtige Esshilfe für Senioren darstellt. Denn im Alter sinkt nicht nur der Appetit, auch die Blut-Hirn-Schranke funktioniert weniger gut. Vielleicht sollte man den alten Menschen einfach genug Salz in die Suppe geben und ihr Essen kräftiger würzen – mit echten Gewürzen und Kräutern – um ihren Appetit so anzuregen, dass keine Hirnschäden zu befürchten sind.

Warum fällt es uns so schwer, auf Glutamat zu verzichten? Weil Glutamat dem Körper eiweißreiche Nahrung anzeigt. Wir haben spezielle Rezeptoren auf der Zunge und im Magen, die den Körper auf die Verdauung von Eiweiß einstimmen, sobald wir Glutamat schmecken. Das bedeutet auch: Glutamat ist kein Geschmacksverstärker, sondern ein fünfter Geschmack. Weil er in Japan beschrieben wurde, heißt er umami, was soviel wie köstlich, würzig, brüheartig bedeutet. In der Entwicklungsgeschichte des Menschen war es wichtig, ausreichend eiweißhaltige Nahrung zu finden. Dies spricht für eine sehr alte Vorliebe für den Umami-Geschmack und könnte erklären, warum wir so leicht auf die „Geschmacksprothese“ Glutamat hereinfallen.

Glutamat ist also keineswegs neu auf dem menschlichen Speisezettel – neu und besorgniserregend sind die exorbitanten Mengen, die mittlerweile verzehrt werden und die nicht selten die eigentlichen Eiweißlieferanten wie Fleisch, Fisch oder Milchprodukte ersetzen. Seit 1956 wird reines Glutamat kommerziell hergestellt, längst mit Hilfe gentechnisch optimierter Mikroorganismen. Die weltweite Produktion beläuft sich auf eineinhalb Millionen Tonnen jährlich. Würde man diese Menge auf Lkws mit je 12 Tonnen Fassungsvermögen laden, würde die Lkw-Schlange von Stockholm bis nach Rom reichen. So viel Glutamat wird weltweit verspeist – jedes Jahr.

In dieser Menge sind aber nicht alle Glutamatquellen enthalten, denn es versteckt sich gerne. Wer ahnt, dass sich hinter so unverfänglichen Begriffen wie „Aroma“, „Würze“, „Milcheiweißkonzentrat“, „Tomatenpulver“ oder „Hefeextrakt“ Glutamat verbergen kann? Es ist ein wesentlicher Bestandteil von Gemüse- und anderen Fertigbrühen, von Hefeflocken und Flüssigwürzen. Derzeit ist es Verbrauchern daher nicht möglich, alle Glutamatzusätze zu erkennen oder die verzehrte Glutamatmenge einzuschätzen. Warum wird der Stoff nicht deklariert? Dies käme auch den Herstellern zugute: Jenen, die statt auf Glutamat auf qualitativ hochwertige Zutaten setzen, sowie jenen, die den Geschmacksverstärker tatsächlich nur in sehr kleinen, in der Regel unproblematischen Mengen zum Abrunden des Geschmacks einsetzen.

Weil der Geschmacksturbo so umstritten ist, bietet die Industrie zunehmend Produkte „ohne Zusatz von Geschmacksverstärkern“ an. Auch Knorr schreibt im Internet, man habe „die geschmacksverstärkenden Zusatzstoffe ausrezeptiert“. Die neuen Suppen, Saucen und Bouillons bestünden „aus natürlichen, feinen Zutaten, die durch Trocknung haltbar gemacht werden“. Wer glaubt, diese Produkte seien glutamatfrei, irrt. Denn auf den Zutatenlisten findet sich nun vermehrt aufbereitetes Eiweiß, das natürlich auch freies Glutamat beisteuert: Hefeextrakte, Tomaten- und Pilzkonzentrate, Weizen- und Milcheiweißerzeugnisse.

Während Hefeextrakt anstelle von Glutamat einer konventionellen Tütensuppe ein natürliches Image verleiht, fürchten die Hersteller vegetarischer Brühen, Hefeextrakte und Fertigprodukte um ihren guten Ruf. Sie haben nie Glutamatpulver eingesetzt, sondern stets mit Hefeprodukten gearbeitet, deren „fleischiger“, brühiger Geschmack bei Vegetariern beliebt ist. Wer gar kein freies Glutamat verträgt, wird auch diese Produkte meiden müssen. Doch wer sich nur vor Exzessen schützen möchte, kann diese Produkte auch weiterhin in maßvoller Menge verwenden.

Am besten ist es daher (wie immer), mit Grundnahrungsmitteln, echten Gewürzen und Kräutern selbst zu kochen. Zur Geschmacksabrundung ein ordentlicher Schuss Sahne oder Wein, etwas einkochen lassen – fertig. Wer ein „Glutamat-Junkie“ war, braucht ein wenig Zeit, bis die neue Art zu kochen schmeckt und die Geschmacksknospen aus dem Glutamatkoma erwacht sind.

Zum Weiterlesen:

Michael Hermanussen, Ulrike Gonder
„Der Gefräßig-Macher“
Wie uns Glutamat zu Kopfe steigt und warum wir immer dicker werden.
Hirzel Verlag, Stuttgart, 2. Auflage, 2009, ISBN 978-3-7776-1570-7

Diplom Oecotrophologin, Freie Wissenschaftsjournalistin, neugierig, kritisch, undogmatisch

Dieser Beitrag hat 0 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

An den Anfang scrollen